Sammie McFarland
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„Ein wahrer Tsunami der Bedürfnisse“: ein Gespräch mit Sammie McFarland, Gründerin und Vorsitzende von Long COVID Kids

12 September 2022
News release
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Im März 2020 erkrankten Sammie McFarland und ihre 14-jährige Tochter Kitty an COVID-19. Etwa einen Monat nach ihrer ursprünglichen Infektion bekamen sie seltsame und besorgniserregende Symptome, die sich die Ärzte damals nicht erklären konnten: Ohnmacht, Bauchschmerzen, Bewusstseinstrübung und extreme Erschöpfung. Diese Symptome gelten inzwischen als häufige Anzeichen des Post-COVID-Syndroms, das gemeinhin als „Long COVID“ bekannt ist. 

Sammies zunächst vergebliche Suche nach Antworten im Zusammenhang mit der Krankheit ihrer Tochter brachte sie in Kontakt mit anderen Eltern, deren Kinder langfristige COVID-19-bedingte Symptome hatten – und so wurde Long COVID Kids (LCK) geboren. LCK ist eine gemeinnützige Organisation, die mittlerweile mehr als 10 000 Eltern junger Menschen mit dem Post-COVID-Syndrom vertritt und Mitglieder im Vereinigten Königreich und anderen Ländern hat. Durch Sensibilisierung für die Symptome mittels Videos, Fallstudien und sogar einer Bildgalerie der Symptome hilft LCK Eltern, das Syndrom zu verstehen, eine Diagnose zu erhalten und sich um frühzeitige Interventionen zu bemühen, die eine Verschlechterung des Gesundheitszustands ihres Kindes verhindern können. Über Online-Gruppen und -Foren, Zoom-Treffen und Online-Chats für Kinder ermöglicht die Organisation auch gegenseitige Unterstützung und ein Gefühl der Solidarität für Betreuungspersonen und betroffene junge Menschen auf der ganzen Welt. 

„Erfahrene Eltern beantworten den Anruf anderer Eltern. Wir haben großartige, internationale Moderatoren, die die Seite und die Gruppe verwalten und dafür sorgen, dass die Informationen evidenzbasiert sind. Zahlreiche Symptome können behandelt werden. In vielen Fällen müssen die Kinder nicht extrem darunter leiden, und das Management der Symptome kann den Alltag ein wenig erträglicher machen.“ 

LCK finanziert Forschung zum Post-COVID-Syndrom, woran sich auch die Mitglieder beteiligen. Die Organisation setzt sich außerdem dafür ein, das Risiko einer Infektion mit SARS-CoV-2 für Kinder durch bessere Belüftung und konsequenteres Maskentragen in Schulen zu verringern, und plädiert für Anpassungsmaßnahmen für betroffene Jugendliche in Bildungseinrichtungen.

„Die Website Long COVID Kids wird alle 45 Sekunden aufgerufen. Über E-Mails und soziale Medien erhalten wir im Durchschnitt 30–40 Anfragen pro Tag. Was als kleine Basisorganisation begann, hat heute mit einem wahren Tsunami der Bedürfnisse zu tun.“

Verbesserung im Leben betroffener Familien

Eine Mutter, die Unterstützung suchte, war Dr. Binita Kane, eine Fachärztin für Atemwegsmedizin aus Manchester. Ihre 11-jährige Tochter Jasmin leidet seit einer COVID-19-Infektion im Januar 2021 unter extremer Erschöpfung und einer Vielzahl anderer Symptome. 

„Das ist eine sehr isolierende Krankheit, bei der Kinder oft hinter verschlossenen Türen abgeschottet sind, aber das von Long COVID Kids bereitgestellte Unterstützungsnetz war für meine Tochter die Lebensader. Ich weiß nicht, wie wir die letzten 18 Monate ohne LCK überstanden hätten.“

Eine andere Mutter, Harbinder Dhaliwal aus London, äußert sich ähnlich. Ihr neunjähriger Sohn Talvin kann aufgrund der schweren Symptome, die er nach mehreren COVID-19-Infektionen – die erste im September 2021 – entwickelt hat, nicht zur Schule gehen:

„Zum Glück haben wir, als wir am Tiefpunkt waren, uns allein und völlig verlassen fühlten, Long COVID Kids gefunden. Wir waren als Familie am Ende unserer Kräfte. Long COVID Kids gab uns Hoffnung, vermittelte uns das Gefühl, gehört zu werden, und führte uns zu Therapien, die unser Leben zum Besseren gewendet haben.“

Sammie ist sich darüber im Klaren, was Kindern mit stark beeinträchtigenden Long-COVID-Symptomen helfen würde.

„Ich möchte, dass Regierungen den vielen Menschen, die heute wegen des Post-COVID-Syndroms mit Behinderungen leben, mehr Beachtung schenken. Wir brauchen nicht nur Umfragen, sondern Forschung und biomedizinische Studien. Und man sollte den Patienten zuhören und sie als wertvolle Evidenzquelle akzeptieren.“

Auch wenn es sie traurig stimmt, dass sie immer noch für die Erkrankung sensibilisieren muss, ist Sammie doch stolz auf die Organisation, die sie mit ins Leben gerufen hat.

„In der Gemeinschaft liegt definitiv Kraft, und das ist paradox, denn wir sind physisch extrem geschwächt und psychisch erschöpft, weil wir die immer gleichen Botschaften zu den Folgerisiken einer COVID-19-Infektion ständig wiederholen müssen. Ich schöpfe Hoffnung aus der Tatsache, dass es einige wirklich gute Leute gibt, die sich mit der Erforschung des Krankheitsbilds beschäftigen. Für diejenigen unter uns, die in der ersten Welle erkrankt sind, fühlt es sich so schmerzhaft langsam an, aber ich bin mir völlig bewusst, dass wir Familien, die jetzt zur Gruppe stoßen, neue Informationen geben können, und das ist ein Fortschritt.“

Zweieinhalb Jahre nach ihrer COVID-19-Infektion leiden sowohl Sammie als auch Kitty noch immer unter Long-COVID-Symptomen. Durch die Gemeinschaft, die sie aufgebaut haben, fühlen sie sich jedoch mit Menschen verbunden, die ihre Erkrankung verstehen und nachempfinden können, wie sich ihr Leben dadurch verändert hat. 

Das Post-COVID-Syndrom: Mehr Anerkennung, Forschung und Rehabilitation 

Das Ausmaß des Post-COVID-Syndroms (Long COVID) und die langfristige Belastung, die es wohl für die Gesundheitssysteme darstellen wird, werden erst jetzt allmählich erkannt. Studien zufolge haben rund 10% bis 20% der mit COVID-19 Infizierten, also Millionen von Menschen weltweit, möglicherweise noch Wochen, Monate oder sogar Jahre nach ihrer ursprünglichen Infektion mit anhaltenden Symptomen zu kämpfen. 

Mehr als zwei Jahre nach Beginn der Pandemie wissen wir noch immer wenig darüber, wie sich das Post-COVID-Syndrom bei Erwachsenen und Kindern auswirkt. Vor allem in Ländern mit begrenzten Ressourcen müssen größere Forschungsanstrengungen unternommen werden, um mehr über seine klinischen Eigenschaften und seine Häufigkeit sowie über die Risikofaktoren zu erfahren, die bei manchen Gruppen von Jugendlichen anhaltende Symptome auslösen.

WHO/Europa arbeitet mit Patientengruppen zusammen, um vorrangige Bereiche zu ermitteln, in denen Handlungsbedarf besteht. Aktuell fordert WHO/Europa Regierungen und Behörden auf, ihre Aufmerksamkeit auf Long COVID und die von dieser Erkrankung Betroffenen zu richten, und zwar durch mehr: 
  • Anerkennung: sämtliche Dienste müssen angemessen ausgestattet werden, und kein Patient sollte allein gelassen werden oder sich in einem System zurechtfinden müssen, das nicht darauf vorbereitet oder nicht in der Lage ist, diese stark beeinträchtigende Erkrankung anzuerkennen; 
  • Forschung und Berichterstattung: es bedarf der Datensammlung und Fallmeldung sowie einer gut koordinierten Erforschung unter vollständiger Einbindung von Patienten, um ein besseres Verständnis der Prävalenz, Ursachen und Kosten von Long COVID zu entwickeln; und 
  • Rehabilitation: diese kostenwirksame Intervention stellt eine Investition in den Wiederaufbau gesunder und produktiver Gesellschaften dar.